Dienstag, 12. Juni 2007

puddingfrau und lumpenkind

Fäden geschmolzenen Käses hängen mir aus dem Mund. „Möchten sie eine Zeitung kaufen?“ fragt mich der blasse, pummelige Junge und hält mir zerfledderte Blätter unter die Nase. Im trüben Licht der Laterne kann ich „Gratisausgabe“ entziffern. „Nein“ schmatze ich „Möchtest du ein Stück Pizza?“ Er nickt und setzt sich neben mich auf die Bank.

„Ziemlich spät“ stelle ich kauend fest und reiche ihm die Hälfte des Teigfladens. Tonno mit extra Ananas. Spezialanfertigung vom Pizzamann meines Vertrauens. Hastig schlingt er die Mahlzeit hinunter, dann steht er auf, wühlt in den Taschen seiner Jean, die ihm um mindestens zwei Nummern zu groß ist, zieht ein zerknülltes Päckchen Zigaretten hervor und steckt sich eine an. „Wie alt bist du?“ frage ich ihn. „Vierzehn“ sagt er trotzig. „Gut gehalten, ich hätte dich auf höchstens elf geschätzt“ entgegne ich.

Wir mustern uns. „Monika“ sag ich und strecke ihm meine fettige, mehlige Hand entgegen, ziehe sie kurz zurück, um mir die Reste von den Fingern zu lecken, mich mit der Serviette abzutrocknen. „Rene“ antwortet er und schüttelt meine nunmehr saubere Hand. Seine Bewegungen sind ungelenk wie die eines Kindes, aber die Art und Weise wie er seine Zigarette hält, ist bereits beeindruckend lässig.

Die letzte Straßenbahn rattert ums Eck. „Gute Nacht Rene!“. Er folgt mir.

Nachts wirken die Straßenbahngarnituren noch verwahrloster als tagsüber. Unser Abteil ist leer, nur ein paar Glasflaschen rollen klirrend am Boden, als sich die Bahn in Bewegung setzt. „Was machst du jetzt?“ fragt er mich und ich höre, was er nicht ausspricht. „Junger Mann, die Frage lautet wohl eher, was du jetzt machst? Um ein Uhr morgens durch die Stadt zu laufen und Leute um Geld anschnorren ist ein ziemlich dämlicher Plan. Hast du denn kein Zuhause?“ Ich bemühe mich oberlehrerhaft zu klingen, dabei stelle mir vor, ich würde Brille tragen und hätte mein Haar streng nach hinten gekämmt. „Vielleicht schlafe ich bei einem Freund.“ sagt der Junge kleinlaut. „Weiß der von seinem Glück?“ frage ich. „Warum fährst du nicht heim?“

Nun wirkt er noch jünger als er vermutlich ist und erzählt wirre Geschichten von seinem Vater und der toten Mutter. Das wenige, das ich glaube, macht mich traurig genug. Ich muss an der nächsten Haltestelle raus. „Na gut“ beantworte ich seine stille Bitte „dieses eine Mal. Nur heute. Das muss dir klar sein! Einmal und nie wieder!“

Er hat etwas hündisches an sich, als er hinter mir hertrottet. Die Wohnanlage ist modern, viel zu nobel, als dass ich es mir wirklich leisten könnte, hier zu leben. Meine Vermieterin kann es sich auch nicht leisten, deshalb teilen wir uns die Wohnung. An den Wochenenden ist sie meist am Land, die Katze nimmt sie mit. Zumindest fließend Wasser und Strom haben wir, alles andere ist Baustelle. Ich weiß nicht ob sie es jemals schaffen wird, sich wirklich häuslich einzurichten, meine Tage hier sind gezählt, ich werde fortgehen, nur gesagt hab ich ihr das noch nicht. Ich zeige Rene mein Zimmer. Ich erzähle ihm von der Katze, die nur auf das Wort „Fisch“ hört.

„Ich geb dir ein paar frische Sachen zum Anziehen, aber vorher solltest du baden gehen“ schlage ich ihm vor. „Du stinkst.“ Ich lasse ihm ein Schaumbad ein, lege ihm saubere Kleidung und ein Handtuch hin, dann lass ich ihn allein. Ich würde gerne Musik hören, aber Grete hat nur Kassetten mit klassischer Musik. Davon werde ich nervös. Ich höre Rene plantschen. Seine ausgetreten, alten Schuhe kann ich bis in die Küche rieche, also besprühe ich sie mit Deo. Größe 42, die können nicht ihm gehören, genausowenig wie die überlange Hose und der Pullover in dem er fast verloren geht.

„Kann ich kurz ins Bad, deine Sachen holen, die müssen dringend gewaschen werden“ ruf ich ihm zu, er öffnet mir die Tür, trägt bereits mein T-Shirt und die Boxershort. Wir haben keine eigene Waschmaschine, aber es gibt einen Waschsalon im Hof, dort kann ich auch nachts meine Wäsche waschen. Er möchte mitgehen. Ich leihe ihm meinen Mantel und eine Haube, wegen der nassen Haare, mir nehm ich ein Bier mit.

Während seine dreckigen Socken, die Jean und der ausgeleierte Pullover ihre Runden drehen, hocken wir auf den beiden übrigen Maschinen. „Was machst du sonst so, wenn du nicht grad von daheim abhaust?“ frage ich ihn und öffne mein Getränk. „Wie sieht`s aus mit Schule?“. „Ich gehe nicht mehr zur Schule“ „Natürlich, mit elf ist man ja schon praktisch erwachsen und braucht dort nicht mehr hinzugehen.“ erwidere ich spöttisch. Er wird zornig:“Ich bin vierzehn, hab ich doch gesagt.“ „Und ich bin hundert“ Ich grinse.

Eine zeitlang sitzen wir schweigend da, lassen die Beine baumeln, ich trinke Bier. „Hast du einen Freund?“ fragt er mich unvermittelt. „Nein“, sage ich der Einfachheit halber, mir ist nicht danach Definitionen zu suchen, komplexe Sachverhalte zu erklären. „Und du, hast du eine Freundin?“. Natürlich lügt er mich an. Sex hätte er auch schon gehabt, erzählt er. „Echt? Sex hatte ich noch nie.“ Diesmal bin ich es, die lügt. Sein erstaunter Blick belustigt mich. „Aber“ stammelt er „du bist doch schon alt.“ „Naja, hundert bin ich in Wirklichkeit nicht, erst zwanzig, zwanzig ist noch nicht alt.“ Aus Kinderaugen starrt er mich an. „Weißt du, ich hab doch noch nie Sex gehabt“ murmelt er. „Es gibt wichtigeres im Leben“ Die altkluge Rolle fängt an mir zu gefallen. „Zum Beispiel, ob du noch Hunger hast?“ Rene nickt zaghaft. Er wirkt müde.

Ich packe die feuchte Wäsche in einen Sack und wir gehen wieder nach oben. Nachdem ich die Sachen zum Trocknen aufgehängt habe, inspiziere ich den Kühlschrank. „Brot oder Pudding? Mehr hab ich leider nicht hier.“ „Pudding“ murmelt Rene, der nun am Balkon sitzt. Also rühre ich Puddingpulver mir etwas Zucker und kalter Milch an, erhitze die restliche Milch, die sonst nur die Katze trinkt, im Topf. Wenige Minuten später steht dampfende Vanillecreme am Tisch. „Magst du etwas Himbeersirup dazu?“ Rene nickt wieder und schaufelt Pudding in sich hinein.

In der Zwischenzeit durchstöbere ich oberflächlich Gretes Zimmer, irgendwo muss sie eine Menge Kinderbücher lagern, falls ihre Patenkinder zu Besuch kommen. Ich finde nur „Wo geht’s hier nach Panama“ von Janosch. Das mochte ich früher selber gerne.

Rene wankt vor Müdigkeit als ich ihm die Gästematratze vorbereite. Er kuschelt sich an das geblümte Kissen und lauscht mit kindlicher Hingabe der Geschichte, die ich ihm vorlese. Bereits nach drei Seiten ist er eingeschlafen.

Er träumt unruhig, dreht und wendet sich, schlägt um sich, einmal ruft er „Mama“. Ich finde noch lange keinen Schlaf.

Am späten Vormittag muss ich zur Arbeit, Rene nehme ich bis zur letzten Haltestelle mit. Dort wo wir uns gestern getroffen haben. „Nochmal kannst du nicht bei mir bleiben, aber wenn du mal in Schwierigkeiten steckst, ruf mich an.“ Zumindest das kann ich ihm anbieten. Er schenkt mir zum Abschied ein Feuerzeug, das aussieht wie eine Pistole.

Ich erzähle meiner Arbeitskollegin von der vergangenen Nacht. Sie schreit mich an. Ob ich komplett den Verstand verloren hätte. „Die können dich wegen Verführung Minderjähriger drankriegen“ brüllt sie. „Dass du dich überhaupt mit solchem Gesindel abgibst. Aus dem wird doch nie was.“
„Natürlich nicht. Weil solchen Kindern keiner eine Chance gibt. Aber vielleicht hat er nun wenigstens eine schöne Erinnerung.“ Die Kollegin zetert und schimpft und ist den Rest der Woche nicht gut auf mich zu sprechen. Es ist ohnehin meine letzte Woche hier.

Ich erzähle niemandem mehr von dem Jungen oder davon, dass ich glaube, seinen Vater gesehen zu haben, einen alten, dicken, schäbigen Mann, mit unzähligen geplatzten Äderchen auf der Nase, wie es bei Säufern oft vorkommt, der das Lokal betrat und mich beobachtete. Er trug den selben Pullover wie Rene.

Die Kollegin erzählt mir später, als ich bereits die Stadt verlassen habe, Rene sei immer wieder an die Bar gekommen und habe nach mir gefragt, anfangs hätte er jedesmal eine Rose dabeigehabt. Irgenwann reisse ich die Brücken hinter mir vollends ab, zuviele Erinnerungen die ich nicht haben möchte.

Es dauert fünf Jahre bis ich zurückkehre, beruflich, kurz nur. Ich spaziere abends am Fluss entlang, als mich ein junger Bursche anspricht. Das Übliche. Ob ich Drogen kaufen möchte. Ich erstarre. „Rene“ sage ich mit einer Bestimmtheit, die mich überrascht, ich hatte nicht gewusst, dass ich nach all den Jahren seinen Namen noch kenne. „Du bist die Puddingfrau!“ antwortet er verwundert, doch ohne Zögern. Nun ist er ehrliche sechzehn.

Ich gehe weiter, betrete das erstbeste Lokal und betrinke mich.

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testsiegerin - 12. Jun, 08:18

puh. scheiße. das ist heftig.

ConAlma - 12. Jun, 11:49

Ja. Gänsehaut. Und große Traurigkeit.
MoniqueChantalHuber - 12. Jun, 21:14

liebe testsiegerin, das hier hat mich kaum weniger bedrückt.
steppenhund - 12. Jun, 12:21

Irgendwie hoffe ich, dass dies nicht autobiografisch ist. Aber was würde es für einen Unterschied machen? Die Gefühle bleiben doch dieselben.
-
Schade, dass der Zugang zur klassischen Musik nicht funktioniert:(

MoniqueChantalHuber - 12. Jun, 21:19

herr steppenhund, machens sich keine sorgen um meinen musikalischen horizont. da ist schon auch klassisches dabei. ein wenig dichterische freiheit sei mir aber gewährt.
katiza - 12. Jun, 18:37

Frau Königin, ich verneige mich - habe gerade eben Ihr Reich betreten, ein paar Vertraute wahr genommen und mich schon verirrt in ihren Geschichten. Danke, Majestät!

MoniqueChantalHuber - 12. Jun, 18:56

nicht so förmlich bitteschön, wir weilen privat hier (die korrekte ansprache lautet im übrigen: euer unfehlbare, wohlgeborene, großmütiggütige, vortrefflich wunderbare und gottgleiche Majestät).

herzlich willkommen!
katiza - 12. Jun, 19:08

Lässt sich machen - so lange ich deswegen nicht den kopf verliere.
MoniqueChantalHuber - 12. Jun, 19:15

keine sorge, mein schafott klemmt.
blogger.de:f2v2 - 12. Jun, 20:32

Diese Geschichte wurde mit einem Messer aus der Erinnerung geschnitten. Das von den Worten tropfende Blut ist noch warm.

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Ich finde die beamtenhaft anmutende Pause in diesem...
bob (Gast) - 23. Dez, 10:14
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p. (Gast) - 6. Aug, 03:56
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MoniqueChantalHuber - 3. Aug, 16:08
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Klammern anstatt Rettungsschirm, sehr clever.
mq (Gast) - 2. Aug, 09:08
eine fabelnhafte idee.
eine fabelnhafte idee.
MoniqueChantalHuber - 1. Aug, 22:30
Ich überlege gerade,
ob es nett wäre, wenn sich könig egon ladislaus froschojewsky...
schreiben wie atmen - 1. Aug, 22:18

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Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

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