Donnerstag, 31. Mai 2007

deus ex machina

Sie war alleine in diese fremde Stadt gekommen. Ihre Kleidung war durchnässt und sie fror. Ohne genaues Ziel lief sie zwischen den Betonruinen eines ehemaligen Industrieviertels umher, hungrig und müde. Vor ihr eine aufgelassene oder vielleicht nie in Betrieb genommene U-Bahnstation. Sie stieg die Stufen hinab, auf der Suche nach einem trockenen Platz um auszuruhen.

“Bleiben sie stehen!“ Eine Militärpatrouille, etwa zwanzig Mann, die Maschinenpistolen geschultert, versperrte ihr unvermittelt den Weg. Sie wich einen Schritt zurück, spielte kurz mit dem Gedanken davonzulaufen. „Was haben sie hier zu suchen?“ Sie konnte keine Antwort darauf geben, sie wusste nicht einmal, wie sie überhaupt hierher in diese kalte Stadt gelangt war. „Hände an die Wand und Beine breit!“ bellte ein Soldat. Zögernd kam sie dem Befehl nach. Grobschlächtige Hände tasteten unsanft über ihren Körper. Von irgendwoher hörte sie ein anzügliches Lachen. Sie war kein zorniger Mensch, auch nicht besonders leichtsinnig, doch plötzlich stieg Wut in ihr hoch. „Was hab ich denn verbrochen, dass ich hier festgehalten und betatscht werde ?! Ich will sofort wissen wer ihr diensthabender Kommandant ist!“ Die Menge teilte sich und ein untersetzter Mann mit kahlgeschorenem Schädel trat nach vor. In dem Moment wünschte sie, sie hätte nicht auch noch gebrüllt „...ich will zumindest seine verdammte Dienstnummer!“. Der Mann hatte mitten auf seiner Stirn ein Hakenkreuz tätowiert. In seinem Blick lag Wahnsinn. Er musterte sie eingehend, spuckte verächtlich, dann lachte er aus vollem Halse. „Ich habe das Kommando. Nicht nur über diese Einheit, sondern über die ganze Stadt. Über die gesamte Stadt wurde eine Ausgangssperre verhängt. Einen Verstoß dagegegen werde ich nicht dulden.“ Er zog ein zerknittertes Päckchen Zigarretten aus der Brusttasche seiner Uniform, zündete sich eine an, nahm ein paar tiefe Züge bevor er weitersprach: „Natürlich könnte ich dich gleich hier erschießen. Aber wo bleibt da der Spaß für uns? Ich will deiner angsttriefenden Spur folgen, dich jagen bis du um Gnade winselst, bis du dir wünschst, dass ich dir endlich die Pistole an die Schläfe setze und dich von deiner Qual erlöse. Vivere est militare! Also lauf, wir werden uns bald wieder sehen!“.

Und sie lief. Ohne zurückzublicken hastete sie über Treppen, durch leere Gänge, vorbei an zerborstenen Fensterscheiben, eingestürzten Mauern, durchquerte einen stillgelegten U-Bahnschacht. Der Geruch von Ratten, Fäulnis und Tod lag hier überall in der Luft. Fluoreszierende Schimmelpilze spendeten kaum wahrnehmbares fahles, krankes Licht. Regenwasser sickerte durch unzählige Risse im Stahlbeton. Ihr Puls raste. Sie stolperte und erbrach sauren Schleim. Irgendwann gelangte sie aus dem Tunnelsystem hinaus in die bedrohliche Düsternis der herannahenden Nacht.

Graue Häuserschluchten ringsum. Heerscharen von olivgrünen Gefolgsleuten entrollten stumm Transparente mit SEINEM Bild. Die Straßen wie leergefegt. Der Alltagslärm war dem Prasseln des eisigen Regens und dem Klang schwerer Stiefel im Gleichschritt gewichen. Vereinzelt flackerten Leuchtreklamen und tauchten das Viertel in das Schwarzlicht einer Totendisco.

Ähnlich einem panischen Nagetier mied sie offene Plätze und suchte geduckt Zuflucht in den Schatten baufälliger Häuser. In einer dunklen Seitengasse zwängte sie sich in den Spalt hinter einem Müllcontainer. Der Himmel über der Stadt war erfüllt vom Brummen aberhunderter Rotorblätter. Suchscheinwerfer ließen die Umgebung für kurze Momente taghell erscheinen. Sirenen heulten unentwegt. Sie wusste nicht woher sie kam und wohin sie wollte.

Sie lugte aus ihrem stinkenden Unterschlupf hervor. An einem Gebäude auf der anderen Straßenseite lag eine rosa Neonschrift in den letzten Atemzügen. „GAY SEX SHOP“. Ein unausgereifter Gedanke stieg in ihr hoch und mobilisierte die wenigen verbliebenen Kräfte. Sie rannte.

Die Eingangstür des Shops war unversperrt. Sie tastete nach einem Lichtschalter, hielt dann jedoch inne und durchwühlte ihre Taschen auf der Suche nach Feuer. Die kleine Flamme spendete gerade so viel Licht, dass sie das Chaos ringsumher wahrnahm. So als hätten die Besitzer eilig das Weite gesucht. Einen Rollständer behängt mit Nietengürteln und Ledermasken schob sie hektisch zur Seite. Das Gefährt stieß gegen ein Wandregal und löste ein Dildodominospiel aus - Kartons mit genoppten, eingefärbten oder abnorm großen Kunstschwänzen stürzten donnernd hinter ihr zu Boden, während sie sich den Weg in den rückligenden Teil des Geschäftes bahnte. Dort fand sie wonach sie suchte: Hastig wühlte sie sich durch Polizeiuniformen und Bomberjacken. Die sengende Hitze das Feuerzeuges hatte ihre beiden Daumen in schwelende Fleischklumpen verwandelt. Ihr Griff war unsicher, doch vor Erschöpfung spürte sie keinen Schmerz mehr. Mühsam entzifferte sie im Halbdunkel die Kleidergrößen auf den Ettiketten.

Sie schlüpfte aus ihren schmutztriefenden, nassen Kleidern und begann ein Baumwollhemd in Streifen zu reißen. Sie war zwar nicht besonders groß, aber ihre Schultern waren für eine Frau ungewöhnlich breit, ihr Becken dafür schmal und auch ihre Stimmlage sehr tief. Sie würde also ohne weiteres als junger Mann von kleinem Wuchs durchgehen. Mit den Stoffstreifen bandagierte sie ihren Busen so fest, dass es ihr ins Fleisch schnitt und zog dann eine der Militäruniformen über. Am Kassentisch fand sie ein paar Handschellen und eine Taschenlampe. Die Registrierkasse stand offen, jemand hatte sie in aller Hast geleehrt, in einem unteren Fach lagen allerdings noch einige wenige Geldscheine.

Sie fand nichts mehr das von Nutzen für sie gewesen wäre und verließ den Laden. Ihr Blick fiel auf die trüben Schaufenster in denen sie sich spiegelte. Ihr Äußeres wirkte täuschend männlich, bis auf die strähnigen langen Haare.

Sie schlich durch einige Seitenstraßen, immer im Schutz der Mauern, voll der Angst entdeckt zu werden. Alles was sie hörte war Krieg, vereinzelte Maschinengewehrsalven und der höhnische Motorenlärm von kreisenden Helikoptern. Niemand der bei Verstand war, befand sich um diese Zeit hier draußen, selbst die streunenden Hunde und Katzen schienen verschwunden. Nur Ratten und Soldaten.

Vor einem heruntergekommenen Friseursalon machte sie Halt. Die Fenster waren von innen her zugeklebt, kein Laut drang heraus. Dennoch klopfte sie heftig gegen die Scheiben. Sie hörte ein Schaben, als jemand versuchte, die Wellpappe zur Seite zu schieben um herauszuspähen. Ein alter Mann in einer weissen Schürze öffnete vorsichtig die Tür einen Spaltbreit, betrachtete sie lange und ließ sie schließlich ein. Sie folgte ihm. Der langgezogene Geschäftsraum war schäbig und abgenutzt, an der Wand hingen beinahe blinde Spiegel und abgegriffene Schwarz-weiß Fotografien von längst aus der Mode gekommenen Frisurenmodellen. Im hinteren Teil des Raumes standen einige Trockenhauben, Relikte einer vergangenen Zeit. Shampoos und Haartinkturen in dunkelbraunen Glasflaschen stapelten sich an den Wänden und auf einem kleinen Tischchen stand ein Gefäß mit Rasierschaum, Pinsel und Rasiermesser. Erst jetzt bemerkte sie, dass auf den Friseurstühlen einige alte Damen mit ungeheuerlichen Fönfrisuren kauerten. Manche wimmerten, andere wippten beständig auf und ab, als würden sie sich selbst in den Schlaf wiegen. Niemand sprach ein Wort. Im Hintergrund lief ein antikes Fernsehgerät ohne Ton und strahlte Propagandabilder in den Raum. „Sie müssen mir die Haare scheren“ bat sie. Der alte Mann hieß sie Platz nehmen. Mit einer rostigen Schere stutzte er ihre fettigen Locken streichholzkurz, dann schäumte er ihren Kopf ein und kratze ihr bedächtig mit dem Rasiermesser über den Schädel. Mit einem alten Frotteetuch polierte er die Glatze und ein zaghaftes Grinsen huschte über seine eingefallenen Mundwinkel. Ihr Blick glitt hinüber zum Spiegel und sie erschrak, so komplett war die Verwandlung.

„Wir wissen wer sie sind“ sagte er „die Nacht über können sie hier bleiben, doch dann möchte ich dass die verschwinden.“ Er schlurfte hinüber zu einer kleinen Tür, verschwand in einem Hinterzimmer und kam erst einige Zeit später wieder, mit einer Tasse Tee und einem Teller voll Keksen. Dankbar nahm sie die Mahlzeit an, lehnte sich in eine Mauernische und fiel dann in einen unruhigen Schlaf voll nächtlicher Schreckgespenster.

Als sie erwachte, war sie alleine. Jemand hatte sie mit einem Friseurkittel zugedeckt, ihr zuvor noch die Schuhe ausgezogen und mit Zeitungspapier ausgestopft zum Trocknen weggestellt. Neben ihr stand ein Glas Milch, ein neuer Teller mit alten Keksen und ein Zettel mit der ungelenken Aufschrift: „Verlassen Sie sofort die Stadt.“

Sie trank die Milch mit einem gierigen Schluck, steckte die Kekse in eine der Uniformtaschen, schnürte ihre Stiefel und kehrte dem Friseurladen den Rücken zu.

Es war ein grauer Morgen, trüb und traurig, wenige Menschen streiften mit gehetztem, ängstlichem Blick durch die Straßen. An allen Ecken patroullierten Militärstreifen. Manchesmal erbebte der Boden, als würden Panzer ganze Häuserblocks niederwalzen. Der Geruch von Feuer war allgegenwärtig.

Unter Tags zweifelte sie an ihrer Tarnung. Zwar war sie unter Brüdern aufgewachsen und hatte sich stets bemüht derern Gang zu imitieren, diese Erinnerung stieg unvermittelt aus dem Dunkel ihres Gedächtnises an die Oberfläche, aber nun fühlte sie sich zu ängstlich und allein. Sie versuchte selbstsicher zu marschieren ohne dabei Aufmerksamkeit zu erregen, kratzte sich, wenn sie es für nötig hielt im Schritt und zwang sich nicht bei jeder Gelegenheit ihr Spiegelbild in den Fenstern der toten Stadt zu betrachten. Sie wusste nicht wie sie die Kontrollstützpunkte umgehen sollte um hinaus aufs Land zu gelangen. Verstohlen beobachtete sie die marschierenden Soldaten und die gebückt huschenden Zivilisten.

Sie musste in eines der Zentren des öffentlichen Verkehrs, um hinauszugelangen, dessen war sie sich sicher. In den meisten Städten liegen Bahnhöfe eher ausserhalb des Stadtkerns. Gleichzeitig würden aber dort die Kontrollen am strengsten sein. Sie war zu müde um Pläne zu schmieden, zu verzweifelt um abzuwägen was richtig und was falsch sei. Niemand schenkte ihr - dem jungen Soldaten - Beachtung. Sie lies sich treiben, folgte Straßen deren Verlauf sie nicht kannte und gelangte nach stundenlangem Marsch tatsächlich zum Hauptbahnhof. Dort luden hunderte, vielleicht sogar tausende Soldaten schweres Kriegsgerät von den eintreffenden Zügen, schleppten Kisten mit Munition und Ausrüstung. Die militärische Ordnung die überall sonst herrschte, war hier einem regen, aber nicht immer planmäßigem Treiben gewichen. Sie nutzte die allgemeine Hektik um in einen der entladenen Güterzüge zu klettern. Ihre Angst hatte sich in Wahnwitz verwandelt.

„Was zum Teufel machst du hier, Junge?“ brüllte ein Soldat der den Waggon inspizierte und zwang sie auf die Beine. In diesem Moment wusste sie, sie würde sterben. Oder erst vergewaltigt werden und dann sterben. Mit vorgehaltener Maschinenpistole befahl er ihr, sich an die Wand zu stellen und wollte beginnen sie zu durchsuchen. „Bevor sie anfangen mich zu filzen, möchte ich gleich mal eines klarstellen“ keuchte sie „bei mir werden sie ein paar essentielle Teile nicht finden.“ „Was meinst du mit essentiellen Teilen, du kleiner Klugscheißer?“ keiffte der Soldat und lief vor Wut rot an. Spuckefäden verunstalteten seinen Schnauzbart. „ Ich hatte Hodenkrebs. Wenn sie mich also durchchecken, werden sie bemerken, dass mir da unten einiges fehlt. Verdammt, ich hatte eine Totalamputation. Wissen sie was es heißt, wenn der Spruch „Der hat keine Eier“ plötzlich auf einen zutrifft? Sie können mich gern hier und jetzt erschießen, weil ich nichts mehr hab, was mein Leben lebenswert macht. Ich bin ein schwanzloser Looser!“.

Der Soldat wurde bleich. Er ließ die MP sinken. Mitleid, auch Abscheu lag in seinem Blick, als er kehrtmachte...

seltsam, welche nächtlichen bilder das hirn manchmal ausspuckt. nach diesem traum griff ich vorsichtshalber zum fieberthermometer. heute bin ich mir fast sicher, ich habe damals unsere geschichten vermischt und auch ein stückchen für diesen sehr geschätzten menschen mitgeträumt.

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blogger.de:f2v2 - 2. Jun, 11:03

Im Vergleich zu dieser Story erscheinen die Probleme von Snake Plissken wie ein Sonntagsspaziergang.

privataudienz

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der pöbel unter sich

Ich finde die beamtenhaft...
Ich finde die beamtenhaft anmutende Pause in diesem...
bob (Gast) - 23. Dez, 10:14
Das ist doch unglaublich....
Das ist doch unglaublich. Glaub ich.
textorama (Gast) - 22. Sep, 17:11
Wohl eher ein naturhysterisches...
Wohl eher ein naturhysterisches Diorama. Die beiden...
textorama (Gast) - 22. Sep, 17:10
gemüsehunger, immer zur...
gemüsehunger, immer zur unzeit... längst licht aus...
p. (Gast) - 9. Aug, 04:03
gemüsefach hatte an dem...
gemüsefach hatte an dem tag bereits geschlossen.
MoniqueChantalHuber - 6. Aug, 07:58
auf n sprung ins gemüse?
auf n sprung ins gemüse?
p. (Gast) - 6. Aug, 03:56
klammern halten die großen...
klammern halten die großen scheine einfach besser zusammen.
MoniqueChantalHuber - 3. Aug, 16:08
Klammern anstatt Rettungsschirm,...
Klammern anstatt Rettungsschirm, sehr clever.
mq (Gast) - 2. Aug, 09:08
eine fabelnhafte idee.
eine fabelnhafte idee.
MoniqueChantalHuber - 1. Aug, 22:30
Ich überlege gerade,
ob es nett wäre, wenn sich könig egon ladislaus froschojewsky...
schreiben wie atmen - 1. Aug, 22:18

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Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

lookin´ for a prince, horse or castle?