Mittwoch, 9. Mai 2007

lady, die - flashback

Abnehmwahn allerorts.

Auch bei mir hatte der Verzehr von gaumenschmeichelndem, seelenstreichelndem Konfekt in letzter Zeit maßgeblichen Einfluss auf die Erweiterung meiner Konfektionsgröße. Früher, da hätt´s das nicht gegeben, dass ich mich mit meinen nunmehr fast sechzig Kilo Lebendgewicht auf die Straße traue. Niemals hätte ich es ertragen, dass ein Mann meiner Wahl meinen Bauch küsst. Was einstmals einer Demütigung gleichkam, kann ich nun endlich als Kompliment auffassen: „Ich mag es, dass man sieht, dass du genießen kannst“.

Mir haben Frauen light nie gefallen. Solche die sich kasteien, Salatblätter wiederkäuen, in Kindergrößen verloren gehen und alle Zeichen reifender Haut verbergen, weil sie nicht wollen, dass ihre Gesichter Geschichten erzählen. Ich mag Menschen, denen man anmerkt, dass sie ein Leben führen. (Photoshop halte ich übrigens für ein größeres Übel, als Junk Food und alle Weltreligionen zusammen).
Doch ausgerechnet ich wollte verschwindend gering sein. Weil niemand meinen Hunger nach Nähe stillte und ich mich doch auch nicht sattsehen konnte, an allen anderen. Beinahe zehn Jahre war ich Pendlerin – zwischen Kühlschrank und Klo, getrieben von der irrigen Annahme, man würde nur das lieben, wovon man wenig hat.
Die Bulimie, mein Fels in der Brandung, etwas das nur mir gehörte. Sie war ich und ich war sie. Wer immer mir Vorhaltungen machte, bedrohte sie, mich, uns. Wer sie mir nicht gönnte, der wollte auch mich nicht.

Ich kann wieder in Gesellschaft essen, ohne dass mir Messer und Gabel aus den zittrigen Händen fallen. Ich kann wieder für mich oder andere kochen, ohne hinterher den gesamten Vorratsschrank leerzufressen. Ich kann wieder schmecken und riechen, was ich esse.
Ich kann wieder unter Menschen sein, ohne mich zu hassen. Ich kann wieder alleine sein, ohne zu verzweifeln. Ich kann wieder spüren, ohne mir wehzutun.

Das alles ist mir mittlerweile mehr wert, als die paar Zusatzkilo an meinen Hüften wieder loszuwerden.

(die folgenden, hochgradig depressiven, Zeilen eines schwerkranken Teenagers, der sich nur über Gewicht definiert, decken sich zum Glück nicht mehr mit der Grundstimmungslage der Autorin und dienen einzig der Veranschaulichung eines Verfalls.)

10.Oktober 199...

Es gilt ein Jubiläum zu „feiern“. Vor genau einem Jahr beschloss ich abzunehmen. Man sieht was daraus geworden ist – ein krankes Nervenbündel. (Soo schlimm ist es ja wohl nicht – naja, doch – ich weiß nicht.)
Hab mir zu diesem Anlass vorgenommen noch etwas abzunehmen. 10 Kilo. Dann kann mich nie mehr der Gedanke quälen ich sei zu fett! 45 Kilo – diesmal schaffe ich es! Ich schaffe es! Magersucht ist mir lieber als kotzen.
R. wird am 14. dreiundzwanzig. Er ist umgezogen, ich werd ihn nie wieder sehen.
E. ... ich weiß nicht... keine Chance.
Bin ich zu hässlich, fett, blöd? Oder was sonst?
Zu fett werde/will ich nie wieder sein, zu häßlich – das ist Ansichtssache, zu dumm – in mancher Hinsicht zu naiv, aber sonst?
Nie wieder will ich kotzen! Hungern ist doch tausendmal angenehmer und nicht so umständlich. Nie wieder will ich darüber nachdenken müssen, ob nicht irgendwo Speckfalten hervorquellen. Nur ich allein muss es tun und kann es schaffen. 45 Kilo!!

20.Oktober ...

Allgemeines ich weiß nicht was. Die Zeit geht vorüber und ich habe keine Ahnung was ich eigentlich mache. Essen, fressen, nicht an eine Diät denken, manchmal erbrechen, gleich darauf wieder viel essen oder gar nicht, kotzen oder schon, lesen, herumsitzen, die herannahende Schularbeit verdrängen, Au-Pair-Pläne schmieden. Ich träume vor mich hin. Mein ganzes Leben ist nur ein traumartiger Trancezustand. Wer bin ich? Was bin ich? Will ich das eigentlich wissen? Möchte gegen Hunger, Rassismus, Umweltverschmutzung kämpfen, die Welt wachrütteln. Alles sofort ändern. Mich und die anderen. Möchte berühmt und beliebt sein. Bücher schreiben. Aber eigentlich will ich gar nichts. Mich töten? - Nein. Wieder versuchen mir die Pulsadern aufschneiden? Zuviel Angst davor.
Am besten langsam im eigenen Stumpfsinn ersticken, bis nichts mehr von meiner Hochmut, Arroganz, meinen kindischen Träumereien übrig ist. Möchte nichts sein, bin nichts. Doch... nein... keine Ahnung... ist mir egal. Lebe ich? Ist alles nur ein Traum? Ich muss mit dem Träumen aufhören. Ist das der Anfang vom Ende? Ich existiere nicht. Für mich selbst bin ich nicht da. Für die anderen? - falls es sie gibt... Mich kann es nicht geben. Ich spüre mich nicht. Habe ich das jemals? Kann ich nicht sagen. Bin ich depressiv? Nein, dazu müsste ich mir selbst bewusst sein. Man kann nur in Selbstmitleid verfallen, wenn man an sich selbst glaubt. Warum kann ich mich sehen, wenn ich mich nicht fühlen kann? In keiner Form – körperlich – geistig – es kümmert mich nicht, oder doch, oder nicht. Wer weiß das schon? Hab heute einen echten „toten“ Schädel angefasst. Konnte mir nie vorstellen, dass die Berührung eines echten, toten, einstmals lebendigen Schädels in dem einmal ein lebendes, echtes Gehirn war, der einfach so auf dem Tisch lag um ihn zu zeichnen, so ein Gefühl hervorruft. Es war entwürdigend. Bin ich tot – innerlich? Bin ich genauso dem allgemeinen Spott, Interesse, einer Nichtachtung menschlicher Würde ausgesetzt wie dieser Schädel? Ich habe ihn entehrt. War mir seines früheren Seins bewusst und habe mich meinem Instinkt widersetzt den Toten, die Tote in einer gewissen Art zu ehren – über das was, wie, warum – das Leben, den Tod nachzudenken. Ich habe ein schlechtes Gewissen einem Knochenhaufen gegenüber. Bin ich übergeschnappt oder als einzige empfindsam? Ich glaube nicht an Gott oder ähnliches und trotzdem. Hab nur ich das gespürt – ich die nicht weiß was sie ist, warum sie verdammt nochmal ist, warum gezeugt, warum geboren? Warum? Warum?
Menschen – Männer – was ist das. Hab ich schon mal geliebt – kann ich denn fühlen – warum nicht mehr? Was geschieht mit mir? Meine Hand schreibt Dinge, die aus dem Nichts kommen. Ich sehe, höre, rieche, schmecke, fühle, denke – nichts? Musik – Schweißgeruch – Rauchgeschmack – kühle Luft und mitten drin – in mir NICHTS. Nicht mal Leere – unendliches NICHTS.

13.Dezember ...

ICH WILL NIE WIEDER ESSEN!!!!!

Mich zu Tode hungern.
Ich ertrag es nicht länger. Ewig fressen, manchmal kotzen, oft nicht.
Ständig fetter werden. Fett überall. Ich kann mich nicht mehr im Spiegel ansehen, mich nicht mehr auf die Waage stellen ohne beinah in hysterisches Geschrei auszubrechen. So fett, so häßlich – warum ich?- warum bin ich dick und häßlich? Warum ich?
Unglücklich - unbeliebt - ungeliebt. Mindestens 20 Kilo Übergewicht. Ich wünsch mir den Tod!
Weg von meiner Sucht. Essen ist Sucht. Sucht gehört bekämpft. Ich gehöre bekämpft.
Was bedeutet ICH? Eine Ansammlung von Fettzellen, die sich einreden sich ihrer selbst bewusst zu sein. Fett, Fett, Fett, Fett, Fett, Fett, Fett, Fett – überall. Speck, Öl, Tran, die Welt – meine Welt – nur Fett. Ich will nicht mehr. Meine Ziele, Träume, Wünsche, Hoffnungen schmelzen dahin – nein, ersticken, erstarren in Fett. Hunger – warum kann ich nicht lernen ihn zu lieben? Den einzigen Freund. Einzig, allein Hunger der Ausweg. Fett – ich kann es nicht mehr hören, riechen, schmecken, mit mir herumtragen. Ich bin süchtig. Eine Sucht die mir den Tod bringt – den geistigen. Wenn schon Tod, dann nur einen ehrenhaften.
Ein verbrannter, schwelender Fleischberg.
Die Walfänger lauern überall. Wer fängt schon dünne Wale?
Knochen, Sehnen, Haut – was brauch ich mehr? Kälte, Hunger als Gefährten – meine Begleiter, nicht die Last, die ich mit mir herumschleppe.
Ich bin so schwach. Zu schwach um mir selbst gegenüberzutreten. Die Sucht mich vollzustopfen. Ich bin ekelerregend. Mir graut`s vor mir.
Je weniger man von etwas hat umso mehr lernt man es zu schätzen. Ich möchte mich selbst wieder schätzen können, ohne mir etwas vormachen zu müssen.
Wer sieht das Häufchen Elend inmitten Tonnen von Fetts? - mein Selbstschutz – mein Selbstmord.
Fett, Fett, Fett, Fett, Fett, Fett, Fet
Schmalzlocken, Speckreifen, Speckstreifen.
Magersucht komm und hol mich.

Ich will nie wieder essen!

Ich halt es nicht mehr aus.

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privataudienz

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der pöbel unter sich

Ich finde die beamtenhaft...
Ich finde die beamtenhaft anmutende Pause in diesem...
bob (Gast) - 23. Dez, 10:14
Das ist doch unglaublich....
Das ist doch unglaublich. Glaub ich.
textorama (Gast) - 22. Sep, 17:11
Wohl eher ein naturhysterisches...
Wohl eher ein naturhysterisches Diorama. Die beiden...
textorama (Gast) - 22. Sep, 17:10
gemüsehunger, immer zur...
gemüsehunger, immer zur unzeit... längst licht aus...
p. (Gast) - 9. Aug, 04:03
gemüsefach hatte an dem...
gemüsefach hatte an dem tag bereits geschlossen.
MoniqueChantalHuber - 6. Aug, 07:58
auf n sprung ins gemüse?
auf n sprung ins gemüse?
p. (Gast) - 6. Aug, 03:56
klammern halten die großen...
klammern halten die großen scheine einfach besser zusammen.
MoniqueChantalHuber - 3. Aug, 16:08
Klammern anstatt Rettungsschirm,...
Klammern anstatt Rettungsschirm, sehr clever.
mq (Gast) - 2. Aug, 09:08
eine fabelnhafte idee.
eine fabelnhafte idee.
MoniqueChantalHuber - 1. Aug, 22:30
Ich überlege gerade,
ob es nett wäre, wenn sich könig egon ladislaus froschojewsky...
schreiben wie atmen - 1. Aug, 22:18

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Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

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