Donnerstag, 5. Januar 2012

dead man talking

"pass auf, der kratzt und spuckt!" mahnt mich die schwester zur vorsicht.

35 kilo knochen liegen im bettenkäfig und haben keine kraft mehr sich allein umzudrehen. die abnorm verhornten, zu krallen geformten finger- und zehennägel sind natürlich beeindruckend, aber ich bin bereits deutlich ernstzunehmenderen gegnern gegenüber gestanden.

überhaupt gegner - ich bin nicht im krieg, sondern im krankenhaus - und trotzdem hab ich oft den eindruck, die schwierigen sind ihnen feind. die mag keiner. ihn nennen manche schwestern "es".

"es" ist zweiundachtzig. "es". hat krebs im endstadium. "es" hat völlig atrophierte muskulatur. arme und ein bein dünn wie ein strohhalm, das zweite bein haben sie ihm schon vor jahren abgenommen.

"es" ist kachektisch, so ziemlich jeder knochen an seinem körper lässt sich unter der haut erahnen, die so trocken und spröde ist, dass sie allein von der reibung des liegenden körpers am laken wund scheuert oder schlichtweg aufbricht.

"es" ist seit monaten, wenn nicht seit jahren, bettlägrig. "es" lebt seit monaten, wenn nicht seit jahren, auf zwei quadratmetern, sein horizont reicht seit monaten, wenn nicht seit jahren, nur bis zur zimmerdecke, sein blickfeld umfasst wohl, seit monaten, wenn nicht seit jahren - je nach lage des kopfteiles des alten, mechanischen krankenbettes, das patienten nicht selbst verstellen können - bis zur hälfte des kargen zimmers des krankenhauses und zuvor des pflegeheimes.

"immobilität zerstört die körperwahrnehmung" sagt das lehrbuch sinngemäß. körperraumzeitschmerz verschwimmt. das hirn kompensiert und wird verwirrt.

morgens um halb acht kommen die schwestern und katapultieren "es" in die frühstücksposition.

um zehn wird "es" umgelegt. abgedeckt. verletzlich und nackt liegt "es" da. eine wäscht und eine trocknet.

aus dem penis aus dem dauerkatheter tropft blut in den urinbeutel ins bett. nachts nestelt "es" nämlich am schlauch zwischen seinen beinen. anderntags gibt das eine riesen sauerei.

die, die eine riesen sauerei verantstalten, die mag keiner besonders.

die, die eine riesen sauerei veranstalten, sind meistens bettlägrig, können sich nicht anders helfen undoder sind dement. die katheterzupfer, die stuhlschmierer, die mit durchfall, der in der windel (politisch korrekt natürlich dem inkontinenzslip, kurz: inkoslip), hochgedrückt wird bis auf den rücken, das sind die unbeliebten - oder halt die, die klingeln und fordern.

zeitweilig, an den tagen zb, an denen die schwester bei der dienstübergabe jedem, egal ob er es in dieser ausführlichkeit unbedingt wissen muss oder nicht, erzählen kann "die frau x hat sich heut bis über den rücken angeschissen." oder dauerhaft.

"es" gehört zur letztgenannten kategorie. "es" ist ein alter, grantiger, einbeinger mann, der blut und urin in seinem bett und auf dem nachthemd verschmiert, beim versuch, sich dem blasenschlauch zu entziehen.

wenn man "es" bei der ganzkörperwäsche im bett zu schnell über den beckenkamm wuchtet, dann schreit "es". wenn man das gepolsterte pflaster, das die wunde stelle auf dem steißbein - weil der knochen durch die haut stößt und am leintuch scheuert - zu rasch abzieht oder wenn man den beinstumpf zu fest packt, dann versucht "es" zu kratzen und zu spucken. hätte "es" nicht nur mehr ein bein und noch kraft, dann würde "es" bestimmt auch treten.

"pass auf, der kratzt und spuckt!" mahnt mich die schwester zur vorsicht.

"ich würde auch kratzen und spucken an seiner stelle." denke ich.

ich glaub ja nicht, dass krebs ein spaß ist, oder in einer welt leben zu müssen, die sich auf ein (fremdes) bett beschränkt und nur noch haut und knochen sein. überhaupt: getting old is not for cowards. und ich glaube auch nicht, dass man sich die schmerzen vorstellen kann, die all diese menschen hier haben, trotz der vollen dröhnung schmerzmedikamente.

ich glaube aber, dass man mit den meisten leuten im grunde völlig normal reden kann, auch den dementen. also rede ich mit ihm, obwohl "es" ja dement ist.

"es" hat mich noch nie gekratzt oder nach mir gespuckt. mir zwinkert er zu, ich lächle zurück. und wenn ich ihn darum bitte, dann versucht er mitzuhelfen, klammert sich nicht ängstlich ans bettgitter, sondern eifrig an das trapez, wie ein anorektischer turner.

"sagen sie bloß, sie trainieren heimlich? sie wollen mich ja nur beeindrucken." sag ich kokett. herr g, so heißt er nämlich, grinst.

sex im alter ist das zum teil, was ich da mach, glaub ich. ein bisschen kokett sein und zwei minuten echte aufmerksamkeit schenken.

"wer stirbt als nächster?" unterbricht herr g interessiert meine unterhaltung mit seinem mitpatienten. er hat sich wohl verhört.
"ich weiß es nicht, aber ich fände schade, wenn sie sterben"
"wieso?"
"weil ich sie mag"
"dann hab ich also chancen bei ihnen?" sagt herr g und grinst und ich muss noch viel breiter grinsen, weil dieser todgeweihte knochenmann sich tatsächlich bemüht, mich zu beeindrucken. das beeindruckt mich sehr. und es macht mich ganz vergnügt. um seinetwillen

irgendwie geht jeder davon aus: der ist doch nur noch gemüse. diese kleinen dinge interessieren niemanden - die entwicklungen, die dem verfall hämisch ins gesicht lachen, die entwicklungen, die es nicht geben dürfte, weil es nur den abbau gibt und kein zurück.

aber das leben ist ein zäher knochen und es will und will nicht gehen und findet gründe, zurück zu kommen. und dieses mannfrau-ding ist dem leben anscheinend ein guter grund.

letzte woche wusste ich noch nicht einmal, dass herr g in zusammenhängenden sätzen sprechen kann. ich bin mir übrigens nicht sicher, ob überhaupt alle anderen mitarbeiter, die ja bereits deutlich länger auf der station arbeiten, überhaupt wissen, dass herr g in völlig normalen, zusammenhängenden, logischen sätzen sprechen kann und beim waschen und drehen, anstatt sich verkrampft ans bettgitter zu klammern, versucht mitzuarbeiten - wenn er die kraft dazu findet. er braucht einen grund.

heute beobachtet er mich bei der arbeit. mit seinen langen hexenfingern winkt er mich heran und ich trete an sein bett.

"wieso sind sie so traurig?" flüstert er.
"ich bin nicht traurig" lüge ich.
"sie sehen aber aus, wie wenn sie geweint haben. ihre augen sehen so aus."

er hat es als einziger bemerkt.

privataudienz

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der pöbel unter sich

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Ich finde die beamtenhaft anmutende Pause in diesem...
bob (Gast) - 23. Dez, 10:14
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textorama (Gast) - 22. Sep, 17:11
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Wohl eher ein naturhysterisches Diorama. Die beiden...
textorama (Gast) - 22. Sep, 17:10
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p. (Gast) - 9. Aug, 04:03
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gemüsefach hatte an dem tag bereits geschlossen.
MoniqueChantalHuber - 6. Aug, 07:58
auf n sprung ins gemüse?
auf n sprung ins gemüse?
p. (Gast) - 6. Aug, 03:56
klammern halten die großen...
klammern halten die großen scheine einfach besser zusammen.
MoniqueChantalHuber - 3. Aug, 16:08
Klammern anstatt Rettungsschirm,...
Klammern anstatt Rettungsschirm, sehr clever.
mq (Gast) - 2. Aug, 09:08
eine fabelnhafte idee.
eine fabelnhafte idee.
MoniqueChantalHuber - 1. Aug, 22:30
Ich überlege gerade,
ob es nett wäre, wenn sich könig egon ladislaus froschojewsky...
schreiben wie atmen - 1. Aug, 22:18

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Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

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